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Diese Website ist das Online-Archiv der Künstlergruppe solitaire factory, welche zwischen 1991 und 2004 (und darüber hinaus) von Leipzig aus zahlreiche Ausstellungen, Aktionen und Projekte realisierte.

Mitglieder der Gruppe sind Carsten Busse, Thomas Wauer und Fritz Selbmann.


Sie rühr(t)en an den Schlaf der Welt

Im September 2001 eröffnete im damals noch unsanierten Messehof in der Leipziger Innenstadt die umfangreichste Einzelausstellung, die Leipzig außerhalb eines Museums je erlebt hatte. Die Künstlergruppe solitaire factory zeigte Arbeiten aus zehn Jahren ihres Bestehens. Der überwiegende Teil ihrer vielen Projekte war der Leipziger Kunstszene nur vom Hörensagen oder gar nicht bekannt. Die Ausstellung hieß selbstbewusst „Sie rühren an den Schlaf der Welt“ und sollte für die Gruppe ein wichtiges Ereignis werden. Die Vorbereitung war ein Kraftakt sondergleichen, immerhin galt es über 1500 Quadratmeter zu bespielen. Die Eröffnung war gleichzeitig die Party des Galerienrundgangs, der sich in dieser Zeit noch über die ganze Stadt verteilte. Über 700 Besucherinnen und Besucher waren am ersten Tag anwesend, die Reaktionen waren überdurchschnittlich gut, sogar Verkäufe bahnten sich an. Die Presse berichtete positiv, alles lief zunächst besser als erwartet. 

„Schönheit gibt‘s nur im Kampf. Wer hätte gedacht, dass Walter Ulbrichts markiges Wort noch einmal für einen ersten Satz taugen könnte*. Wahrscheinlich aber ahnten es die Jungs von Solitaire Factory immer. Schließlich haben sie in weiser Voraussicht auch die Mao-Bibel nicht entsorgt und daraus die ‚8 großen Thesen zur Verbesserung der Lage der Deutschen‘ (1997) abgeleitet. ‚Je mehr ihr studiert, desto dümmer werdet ihr‘, liest man da über die Zukunft der Bildung. Wer wollte bestreiten, dass es sich um den Kernsatz der Fun-Gesellschaft handelt? 

Solitaire Factory gibt‘s seit 1991. Die Akteure Carsten Busse, Thomas Wauer, Fritz Selbmann haben eine eigene Vorgeschichte, die zu erzählen sich schon lohnte, weil sich in den biografischen Daten so viel subversives Potential verbirgt, dass daraus nur aktiver Anarchismus oder Kunst entstehen konnte. Wie man jetzt bei der Retrospektive der drei Autodidakten sieht, muss das eine das andere nicht ausschließen. Im Gegenteil: Sie treten den zeitgenössischen Beweis an, dass Kunst noch immer – und mit Sinn – unter die Gürtellinie der saturierten Gesellschaft zielen kann.  

Das Geheimnis der Solitaire Factory besteht in der genialen Verwurstung jeglichen Kulturguts. Geschichte ist ihnen nicht heilig und die Parolen, die Massen früher wie heute mobilisieren sollen, nutzen ihnen immer wieder zur Entlarvung von Verdummungsmaskeraden. Schlussendlich laufen ihre Kunstaktionen – inzwischen weit über 70 – auf die Erkenntnis heraus, dass man mit jeder beliebigen Ideologie alles erklären kann. 

Der erstaunte Betrachter ist sofort bereit, zu glauben, dass die Geschichte des 20. Jahrhunderts anders verlaufen wäre, hätte man nur auf El Lissitzky gehört und Minigolf als Volkssport eingeführt. (‚Der Irrtum des Robert Havemann, 1996). Derartige Verblüffung funktioniert aber nur, wenn der Blick auf die Knackpunkte der Geschichte seht exakt ist. Solitaire Factory hat ein Händchen dafür. So wird von Adenauer kolportiert, dass er bei der Überquerung des Rheins bei Deutz die Zugvorhänge zuzog – weil hier der Bolschewismus beginne. Prompt hat Solitaire Factory auf der Brücke von Remagen einen roten Stern installiert (Verborgene Orte, 1999). 

Solche und andere Aktionen kommen aber nie kopflastig daher. Solitaire Factory verfügt über eine solide Erdung, nimmt sich selbst und den ganzen Kunstrummel nicht ernster als nötig, ohne je fahrlässig zu sein. Humor ist, wenn der Künstler sich trotzdem ein Ohr abschneidet. In Leipzig sind sie schon lange Stars, auch andernorts wird sich die Erkenntnis durchsetzen, die sie in aller Bescheidenheit zum Motto ihrer Schau gemacht haben: Sie rühren an den Schlaf der Welt.“ 

Dr. Peter Guth, Leipziger Volkszeitung, 2001 

An der Aussage, dass die factory-Künstler in Leipzig Stars seien, war tatsächlich etwas dran. Allerdings hatte dies wohl viel mit ihrer persönlichen Präsenz in der Stadt zu tun. Die konzeptuelle und aktionistische Kunst der Gruppe wurde in der traditionell von Malerei dominierten (und hinsichtlich der Kunstproduktion leider oft humorfreien) Kunstszene Leipzigs lange Zeit eher misstrauisch und abschätzig betrachtet. Erst die Ausstellungserfolge anderswo führten im Laufe der Jahre zu einer Akzeptanz, die über den eigenen Fanclub hinaus reichte. 

Gleichwohl blieb der soliaire factory ein kommerzieller Erfolg, der für die drei Protagonisten ein Leben von ihrer künstlerischen Arbeit ermöglicht hätte, versagt. Die Produktion der factory war allerdings von Anfang an auch schwierig zu vermarkten. Ihre Projekte waren meist temporärer Natur, orientierten sich an den gesellschaftlichen Kontexten und den Lebensumständen ihrer Entstehungszeit. Das Provisorische, das Unedle, sich jeder Musealisierung verweigernde, gehörte ebenso zum künstlerischen Konzept der Gruppe wie ein absoluter Gegenwartsbezug. Im Fokus der Arbeit der factory stand stets die Produktion, für erfolgreiche Vermarktungsstrategien blieb dabei wenig Zeit – und es mangelte zugegebener Weise auch definitiv am marktwirtschaftlichen Denken. Einnahmen wurden sofort in neue Projekte gesteckt, zum Überleben mussten – wie bei den meisten Künstlerinnen und Künstlern – zeit- und kraftraubende Jobs angenommen werden.  

Die Ausstellung „Sie rühren an den Schlaf der Welt“ sollte als große umfassende 10-Jahres-Retrospektive helfen, diesen Zustand zumindest teilweise zu verändern. Es kam anders. Nach einem vielversprechenden Start sorgten die Ereignisse des 11. September 2001 dafür, dass die ganze Welt bis zum Ende der Ausstellung vor den Fernsehgeräten saß.  

Die Hoffnung auf eine größere Wertschätzung in der eigenen Stadt war erfüllt worden, Kontakte zum Kunstmarkt oder den wichtigen Institutionen intensivierten sich indes nicht. Obwohl solitaire factory regelrechte Fans in der Stadt hatte und hat, schaffte es nur eine einzige Arbeit der Künstlergruppe in eine der öffentlichen Leipziger Sammlungen.  

In der Zeit ihres Bestehens realisierte die Gruppe zahlreiche Ausstellungen und Aktionen im In- und Ausland. In kleinen Offspaces, in renommierten Kunsthallen und im öffentlichen Raum zeigte die factory über zwölf Jahre lang ihre ambitionierten Projekte. In Gruppenausstellungen konnte sie sich gemeinsam mit namhaften Kolleginnen und Kollegen wie Jenny Holzer, Felix Droese, Raffael Rheinsberg, Neo Rauch, Flatz, Cornelia Parker, Al Hansen, Rainer Görß, Else Gabriel u.v.a. präsentieren. Es war eine bewegte und künstlerisch durchaus erfolgreiche Zeit. Die finanziellen Probleme ließen eine kontinuierliche Fortsetzung der Arbeit jedoch irgendwann nicht mehr zu.  

Mitte 2004 beschlossen die Künstler die Auflösung der solitaire factory. 

In den Folgejahren zeigte die Künstlergruppe gelegentlich einzelne Werke aus den Jahren ihres Bestehens in unterschiedlichen Zusammenhängen. Die damals wichtigtste Ausstellung war 2008 die prominent besetzte Show „Blick zurück nach vorn“ der Montag Stiftung für Kunst in Bonn. Solitaire factory präsentierte noch einmal den Film „Wiedergutmachung durch Arbeit“ aus dem Jahre 2000. Das „Marinus“-Projekt erfuhr im gleichen Jahr eine temporäre Fortsetzung in der Projektgalerie Born+Busse in Leipzig. 

Erst zehn Jahre später, 2018, wurde mit der umfassenden Aufarbeitung und Digitalisierung des Archivmaterials begonnen. Ein halbes Jahr später war der größte Teil dieser Arbeit abgeschlossen und das Gesamtwerk von solitaire factory konnte in Form von 14 Broschüren in kleiner Auflage als Box-Edition erscheinen. 

Während dessen erfuhr die Gruppe von einem Ausstellungsvorhaben des Museums der bildenden Kunst in Leipzig – „Point of No Return“, einem großangelegten Aufarbeitungsversuch ostdeutscher Kunst in den Jahren des politischen Umbruchs von Mitte der 80er bis Mitte der 90er Jahre. Als Kuratoren fungierten Christoph Tannert und Paul Kaiser sowie der Direktor des Museums Alfred Weidinger. Da die Künstlergruppe (wieder) nicht für die Ausstellung vorgesehen war, intervenierte Carsten Busse zunächst bei Christoph Tannert, der immerhin einen Katalogbeitrag über solitaire factory zusagte. Datraufhin kam es zu einem Treffen mit Alfred Weidinger, dem das Werk der Gruppe bis dato völlig unbekannt war. Weidinger zeigte sich äußerst interessiert; er war verblüfft, fast schon verärgert, dass die Arbeit der Gruppe bisher weder in Buchform noch museal bearbeitet worden war. So kam es schließlich doch zu einer Beteiligung an der international beachteten Museumsausstellung. Zudem stellte er seine Unterstützung bei kommenden Projekten in Aussicht. 

Dieser Umstand führte dazu, dass sich Carsten Busse, Thomas Wauer und Fritz Selbmann nach 15 Jahren wieder trafen und tatsächlich über eine Weiterführung der Arbeit der Künstlergruppe nachdachten. Die erste Aktion fand anlässlich der Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag der „Friedlichen Revolution“ in der DDR im Herbst 2019 im Rahmen des Festivals „Revolutionale“ in Leipzig statt. 

Die Arbeit der Gruppe wird sich nun in erster Linie mit der Aufarbeitung der eigenen Kunstprojekte befassen. Da viele Werke nur temporär existierten und inhaltlich mit der Zeit ihrer Entstehung unmittelbar verbunden waren, müssen Formen gefunden werden, diese Werke erneut sichtbar zu machen. Im besten Falle wird dies mit einer Neuinterpretation im Sinne des Hier und Jetzt verbunden sein, ohne dass die Arbeiten ihren ursprünglichen Charakter verlieren.

Inoffizieller Gesellschaftervertrag
solitaire factory GbR, 1995

Aktion "Unruhe"
Berlin, 1996